Laufen lernen

Jeder, der Pädagogik studiert hat, durfte sich schon einmal mehr oder weniger intensiv mit den Reformpädagogen auseinandersetzen.

„Hilf mir, es selbst zu tun. Zeig mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Hab Geduld, meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger, vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir Fehler zu, denn aus ihnen kann ich lernen.“[1]

Ein Zitat von Maria Montessori, das sich durch das Leben jedes Lernenden zieht. 

Kleine Kinder lernen, indem sie beispielsweise ihre Eltern beobachten und nachahmen. Eltern unterstützen ihre Kinder in diesem Entwicklungsprozess und geben ihnen darin Sicherheit. Vereinfacht dargestellt:  Je nachdem wie groß die individuelle intrinsische Motivation bzw. Der Wunsch nach Unterstützung und Sicherheit ausgeprägt ist, desto schneller lernen die Kinder. Jedes in seinem individuellen Tempo. Auch die ehrgeizigsten Eltern stellen spätestens beim Laufen lernen fest, dass sich so etwas nicht erzwingen lässt, weder durch diverse Laufhilfen noch durch erhöhten Trainingsaufwand. Meine Söhne zum Beispiel begannen mit 14 Monaten, sich vorsichtig frei zu bewegen, meine Tochter hüpfte bereits mit 11 Monaten auf der Tanzfläche der Kinderdisko im Familienurlaub herum. 

Ebenso verhält es sich mit dem Erlernen der Grundfähigkeiten Schreiben, Lesen und Rechnen. Er Unterricht in Grundschulen ist daher im höchsten Maße differenziert und individualisiert, um jedem Kind das eigene Tempo zuzugestehen. Da werden Kinder gemeinsam eingeschult, von denen das eine bereits einfache Texte erlesen kann und alle Buchstaben kennt, ein weiteres bereits den Zahlenraum bis 100 überblickt, eines kann fein differenzierte Zeichnungen anfertigen, eines einen Salto aus dem Stand durchführen und eines 1000 Meter schwimmen. Es sind aber auch die Kinder dabei, die ein Handicap mitbringen, häusliche Gewalt erleben, nur ungesunden Lebensstil kennen, wenig Bewegungsmöglichkeiten haben. Am Ende der Grundschulzeit sollen all diese Individuen den Lernstoff erarbeitet haben und für eine der weiterführenden Schulformen „fit“ sein. 

Warum ich das erzähle? 

Weil Grundschullehrer*innen an der Basis arbeiten und viele leider vergessen, was hier gewuppt werden muss. Grundschullehrkraft zu sein bedeutet, mit der höchsten Wochenstundenzahl und dem niedrigsten Gehalt aller Schulformen die größtmögliche pädagogische Arbeit zu leisten. Grundschulen stemmen die Inklusion, indem sich die Lehrer*innen in die individuelle Förderung der Kinder einarbeiten, die ursprünglich von Förderschulkräften übernommen werden sollte. Die Personaldecke der Förderschulen ist aber so dünn, dass diese -wenn überhaupt- nur stundenweise an die Grundschulen kommen können. 

Es mangelt in Grundschulen an vielem, an Unterstützung, an Platz, an Lehrkräften, an Infrastruktur. Provokant gesprochen: Der Wert, den die Gesellschaft der Grundschule beimisst, wird durch die Politik deutlich. Natürlich gibt es Kommunen, in denen Grundschulen die selbe Unterstützung wie die weiterführenden Schulen erhalten. Sie sind nur sehr rar gesät und häufig hängt das auch mit einer rührigen Schulleitung zusammen. Fortbildungsangebote für Grundschulen im digitalen Bereich wurden ebenfalls sparsam angeboten. 

Man muss als Grundschullehrkraft schon sehr viel Liebe zum Beruf, noch mehr Zuversicht und ganz viel Geduld mit den Behörden und momentan der Gesellschaft mitbringen. 

Ein Schulleiter äußerte sich in einem Workshop folgendermaßen: „Erst haben sie (die Politiker) es jahrelang verschlafen, uns digital auszustatten und entsprechend zu schulen, und nun soll alles so schnell wie möglich aufgeholt werden. Meine Kolleg*innen haben schon einige Online-Seminare besucht, jetzt müssen sie aber erst einmal die Zeit bekommen, das alles auszuprobieren und didaktisch umzusetzen. Hier fehlt die entsprechende Beratung. Die fehlende Infrastruktur will ich gar nicht erst ansprechen.“

Das trifft den Kern der Problematik. Natürlich gibt es auch die „Bewahrer“, die sich in fast jedem Kollegium wiederfinden und die sich mit allem, was anders ist, schwer tun. Gründe dafür gibt es viele und hier muss das Personalmanagement durch die Schulleitung eingreifen. Die Mehrheit der Grundschullehrkräfte ist aber offen gegenüber Veränderungen. 

Sie trauen es sich zu, „digital laufen zu lernen“ und auch die Inklusion dabei nicht aus den Augen zu verlieren.

Dafür benötigen die meisten von ihnen aber nicht nur einzelne Anreize, wie sie durch Großveranstaltungen gesetzt werden. Auch hier gilt: Je nachdem, wie groß die intrinsische Motivation ausgeprägt ist, desto schneller werden sie ihren Unterricht verändern und sich weitere Anregungen holen. Viele benötigen aber zusätzliche Unterstützung und Sicherheit, denn eines hat sich bei Lehrer*innen eingeprägt: Du darfst keine Fehler machen. Du wirst während deiner Lehrer*innenlaufbahn ständig beobachtet und bewertet, von den Behörden, von den Eltern, von der Presse. 

Das zieht sich auch durch das ganze letzte Jahr. Der Datenschutz grätscht dazwischen, wenn man ein Tool verwendest, das vielleicht gerade den Unterricht bereichert, das individuelle Lernen der Kinder fördert, in anderen Bundesländern erlaubt ist, aber im eigenen Bundesland nicht zugelassen wird. Die Eltern beschweren sich, weil man aufgrund mangelnder Infrastruktur keine Videokonferenzen durchführen kann oder weil man zu viele Videokonferenzen durchführt. Weil man mit Druck von oben Noten vergeben muss, ohne schriftliche Arbeiten schreiben zu lassen und dann „kreativ“ sein soll. Aber bitte datenschutzkonform.

Das Ganze dann mehr oder weniger kritisch beäugt von der Presse.

Da muss man schon sehr sicher sein in dem, was man macht, gerade vor den Anforderungen, den die Arbeit an der Grundschule mit sich bringt. 

Diese Sicherheit erreichen viele Lehrer*innen momentan durch individuelle Unterstützung, durch kleine Schulungsgruppen, durch Möglichkeiten, nachzufragen, durch positives und konstruktives Feedback. Das kann eine Großveranstaltung nicht bieten. Dafür müssen andere Fortbildungs- und Vernetzungsangebote geschaffen werden sowie Möglichkeiten, die Lehrkräfte zu entlasten, wenn sie z.B.  ihr Wissen an das Kollegium weitergeben.

Laufen lernen benötigt Zeit und  Unterstützung. 

Gebt den Lehrkräften der Grundschulen diese Zeit. 

Und vor allem das nötige Rüstzeug – veränderte Fortbildungskultur und passende Infrastruktur.


[1] aus: http://www.montessori-erding.de/verein/montessori-paedagogik, 22.07.2015

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